Vielleicht hätten wir ernst nehmen sollen, dass eine der letzten Streckenänderungen von chinesischer Seite im Vorfeld, auf der 7. Etappe am Ostersonntag, erklärt war mit „von Schutt- und Schlammlawine zerstört“. Hier ist der Winter noch nicht lange um. Am Karfreitag soll sogar noch einmal Schnee fallen. Und die Abschnitte der Mauer, die im Winter gelitten haben, sind noch nicht alle wieder gesichert. Wir sind im Gebirge, im Yanshan genauer gesagt. Das wird einfacher werden, denn den Wulingshan, wo der höchste Punkt der Route gewesen wären, haben unsere chinesischen Betreuer inzwischen ganz gestrichen. Tatsächlich hat, trotz aller Vorbereitung, trotz allen Optimismus, das Projekt seinen Charakter grundlegend gewandelt.

Wir reden immer noch von Ausdauer, Kraftausdauer vor allem; wir reden immer noch von Sport; wir reden immer noch von Kultur; und gerade bei letzterem sind wir hier förmlich erschlagen davon, wie hoch die chinesische Seite das ganze Projekt hängt. Kein „Auftritt“ von Guido auf dem Weg zu oder von einem Abschnitt Mauer, der nicht ins regionale TV, die lokale Presse käme. Aber die Ausdauer ist nicht so sehr AUF der Mauer nötig wie ZU der Mauer. Auf der Mauer ist fahrerisches oder läuferisches Geschick gefordert. Doch manchmal ist es sogar schwierig, die Mauer zu finden.

Kein Witz.

Foto 2: Christian Habel - Höchste Konzentration auf dem Ghost Lector auf der Mauerkrone im Bereich Baiyangyü

Foto: Christian Habel – Höchste Konzentration auf dem Ghost Lector auf der Mauerkrone im Bereich Baiyangyü

Aber der Reihe nach. Rund um große Städte hört die Mauer schon einmal unvermittelt auf, weil eine Schneise durch den Hügel, auf dem sie steht, geschlagen wurde, wo heute eine Straße durchführt. Dann ist buchstäblich die Mauer vermauert; auf chinesisch und englisch prangt dann auf einem begehbaren Teil ein Schild, dass es jetzt nicht weitergeht. Im Yanshan hört sie schon mal unvermittelt auf, weil da ein Felsabbruch von 50 oder 100 Metern kommt, den im 13. Jh. kein Mensch verteidigen musste, weil von da sowieso kein Angriff droht. Dann hört sie mal nicht ganz so unvermittelt auf, weil sie von Mauer zu Geröllfeld zu Erdwall zu Nichts wird. Manchmal fehlen Kilometer Mauer, weil sie dort nie gebaut wurde. Wo das alles so ist, keine Ahnung. Wir waren in Dongjiakou, Paoziyu, Jielingkou, Taolinkou, Yumu Lingcun. Sagt unser chinesischer Streckenplan. Aber was genau was und wo ist, verschwimmt bei allen (Europäern) langsam. Zu ähnlich sind die Namen der Städtchen und Gebirgsdörfer, in deren Nähe wir die Mauer erklimmen, für europäische Ohren. Was wir wissen: Wir sind im Hotel in Qianxi (größere Stadt), und hier gibt es Internetanschluss.


Der Ausdruck „die Mauer erklimmen“ ist mit Bedacht und zu Recht gewählt. Von einem Zugang in einem Städtchen oder Dorf geht es meist erst einmal ein paar Kilometer und 50 bis 200 Höhenmeter zur Mauer selbst. Einmal da, geht, steigt, kraxelt man dann auf die Mauerkrone, um festzustellen, dass ihr Verlauf wirklich jeden Hügel und Berggipfel mitnimmt, der in der Nähe ist. Ja, sie war eben ein Verteidigungsbollwerk. Vom Ort des Zustiegs ist aber immer wieder die Mauer hinter Wald und/oder Geländevorsprüngen schlicht nicht auszumachen. Dann muss unser Chefbetreuer, Herr Dong Yaohui, mit der Unterstützung örtlicher Offizieller unseren kleinen Trupp auf den richtigen (Feld-) Weg oder (Wander-) Pfad bringen.

Auf der Mauerkrone ist dann bei Guido allerhöchste Konzentration gefragt: abgesackte Stellen, herumliegendes Geröll, weich gewordener Belag, steilste Treppen. Wenn man stehen bleibt und den Blick schweifen lässt, sagt er, ist das grandios und beeindruckend; aber beim Laufen oder Fahren muss die Konzentration so hoch sein, um nicht abzustürzen, dass an Genießen von Bauwerk und Landschaft absolut nicht zu denken ist. Immerhin haben Guido und sein für ihn neues Lector mit E.i Shock-Federung sich fast sofort aneinander gewöhnt. Denn Radbeherrschung ist überlebenswichtige Pflicht. Und die E.i Shock schlägt sich im wirklich heftigen Gelände bislang bravourös.

Nicht nur, wo die Mauer in Geröll übergeht, manchmal auch der schieren Steilheit wegen muss das Rad zurückbleiben. Wo es an die 50° bergauf geht, ist einfach keine Kraft mehr auf das Hinterrad zu bringen. Aber selbst „nur“ als Treppenlauf ist das alles heftig. Guido brachte es auf den Punkt: „Noch 10 Stufen höher, und ich hätte Buddha die Hand geschüttelt.“ Und nach einigen Kilometern solcher Plackerei, die mitunter ans Bergsteigen geht, hört dann, wie geschildert, die Mauer einfach auf bzw. kann man nicht weiter zum nächsten Abschnitt hinter dem Felseinschnitt oder am anderen Seeufer.

Foto 3: Christian Habel - Rad nicht mehr möglich: Guido beim „Cross- und Gerölllauf“ im Bereich Baiyangyü/Yumu Lingcun

Foto: Christian Habel – Rad nicht mehr möglich: Guido beim „Cross- und Gerölllauf“ im Bereich Baiyangyü/Yumu Lingcun

Das ist auch der wesentliche Grund, warum wir einräumen müssen, dass das Projekt so wie ursprünglich geplant nicht durchführbar ist. Bei all den Tracks auf dem Garmin Edge, die wir im Vorfeld erstellt hatten, ist eines nicht bedacht worden: Wo es schlicht nicht weitergeht und auch objektiv unmöglich ist, und sei es weglos, weiter zu gehen oder zu fahren, heißt es mehrfach täglich „kehrt marsch“. So wird aus jedem Kilometer Mauer mindestens eineinhalb Kilometer Strecke plus bei jeder Umkehr mehrere Kilometer Zustieg zur und Abstieg von der Mauer. Für unsere ins Auge gefassten 600 - 900 km Gesamtmauer (je nach den Radumfahrungen, die auf Guido zugekommen wären) hätten schließlich zwischen 1400 und 2100 km effektive Strecke, z. T. in alpinem Gelände, zu Buche gestanden. Heute wissen wir, dass es gut war, dass unsere chinesischen Begleiter die Strecke verändert, verkürzt haben. Die Herausforderung ist heute nicht mehr die bloße Länge der Strecke. Guido ist gut vorbereitet hier angekommen und hat deshalb keinerlei konditionelle Probleme. Die Herausforderungen sind: Mauer finden, Zustieg finden, vom Zustieg auf die Mauer kommen, Fahrrad z. T. über längere Strecken schleppen statt mit ihm fahren, und allerhöchste Konzentration auf der Mauer.

Nach wie vor scheint es für die Bewohner vor Ort ein Highlight zu sein, dass da einer überhaupt mit dem Rad auf die Mauer darf, ein Europäer obendrein. Immerhin ist sie ein nationales Identitätsmerkmal und eines der wichtigsten Kulturgüter Chinas. Aber nachdem es bei ihnen etwas zögerlich losging und wir schon Sorge hatten, Guido würde ausgebremst und bloß herumgezeigt, sind die chinesischen Begleiter in allem und jedem inzwischen echte Türöffner für Guido geworden. Zum allergrößten Erstaunen, so scheint es, der Bevölkerung vor Ort.

Zaijian, Marco.

© Text und Bild Guido Kunze, Christian Habel, Marco Rühl.