Kinderlähmung gibt es immer noch auf der Welt, obwohl die Krankheit durch Impfung relativ sicher auszuschließen ist. Deshalb war auch die Zielankunft in Perth, Erfolg meines Unternehmens vorausgesetzt, kurz vor den Welttag gegen Polio des Rotary Club International am 24.10.2009 gelegt.

Vieles war also gleich, eines war aber ganz anders als 2007, auch wenn es heute, nach dem Erfolg, kaum einer glaubt: Nach dem erzwungenen Abbruch vor zwei Jahren, wo ich von Anfang an an den Rekord für die Durchquerung heran wollte, ging es diesmal wirklich „nur” mit dem Ziel, überhaupt anzukommen, los. Die 8 Tage waren die Vorgabe. Natürlich sammelten wir von Beginn an Unterschriften, erstellten die Komplettdokumentation, die das Guinness-Buch verlangen würde, hatten wir die Tour als Rekordversuch dort angemeldet. Aber wir taten es nur für den Fall, dass... Ob es nun am Ende mehr oder weniger als Richard Vollebregts gut 8 Tage, 10 Stunden werden würden, war mir herzlich egal, wenn ich nur Perth-North Beach auf dem Rad sehen würde, hoffentlich in weniger als 9 x 24 Stunden.

Nach den ersten 200 km waren alle unterschwelligen Rekordpläne, die wir gehegt haben könnten, ohnehin erst einmal hinfällig. Auf dem Weg zur Oper am Hafen von Sydney landeten wir im Stau des Berufsverkehrs, fuhren zunächst an der richtigen Abfahrt vorbei, mussten dann mit den Verkehrspolizisten und Wachmannschaften endlos diskutieren, die unsere Wohnmobile nicht zur Oper fahren und schon gar nicht dort parken lassen wollten. Der zeitliche Puffer war weg, wir waren spät dran, und trotz des Einsatzes des deutschen Generalkonsulats in Sydney und des Konsuls Hans Gnodtke persönlich ging es am Start weniger feierlich als hektisch zu und war der Weg aus dem Straßengewirr Sydneys heraus alles andere als einfach. Deshalb werden auch unterschiedliche Startzeitpunkte genannt. Wir richteten uns fortan nach der „offiziellen Wettkampfzeit” meines Garmin Edge: Unternehmen Australiendurchquerung von Ost nach West startete in Sydney an der Oper am 13.10.2009 um 10:25 Uhr Ortszeit, 01:25 Uhr MESZ.

Aber, wie gesagt, dass ich die genaue Startzeit überhaupt brauchen würde, dachte ich da noch gar nicht. Denn zunächst einmal ging es durch die vielen Ampeln und den dichten Verkehr von Sydneys westlichen Vorstädten äußerst unrhythmisch auf die Blue Mountains zu. Was so etwas wie das Naherholungsgebiet Sydneys ist, mit sutropisch überwucherten Canyons, beeindruckend bizarren Felsformationen und dem Blauschimmer über den Eukalyptuswäldern, die ihnen ihren Namen gaben, ist aber auch Teil von Australiens höchstem Gebirge, der Great Dividing Range, und stellte mir erst einmal einen Pass von 1093 m in den Weg, den Mount Boyce, höchster Punkt der gesamten Tour. Konsul Gnodtke hatte mir mit auf den Weg gegeben, er sei am Vortag von West über die Blue Mountains durch einen Hagelsturm nach Sydney gefahren; er wünsche mir besseres Wetter. Natürlich regnete es. Und hagelte. Zwar nur ein Schauer, aber doch. Der Wind meinte es ebenso wenig gut mit mir. Die Ost-West-Richtung hatte ich deshalb bevorzugt, weil beim West-Ost-Versuch 2007 bis zum Ort des Abbruchs fast ständig Ostwind geherrscht hatte. Mit Ost-West hoffte ich auf mehr Rücken- oder zumindest weniger Gegenwind. Denkste. Starke Fallwinde vom Gebirge zum Meer, stets mir direkt ins Gesicht, machten mir zu schaffen. Kaum waren wir aus dem Ampelgewirr Sydneys heraus, ging es via Penrith auf der Autobahn weiter; die Ampeln wurden auf der breiten M4 durch den Gegenwind ersetzt. Und schließlich zeigte bei Kilometer 180 der Edge bereits 3200 hm an. Wir waren deutlich unter Schnitt, weil ich zunächst entweder gegen Wind oder gegen Steigung oder gegen beides kämpfte.

Nach dem Mount Boyce wurde zwar das Treten leichter, aber bald wurde es Abend, schließlich Nacht, und das bedeutete ein Absacken der Temperatur auf nur + 3°C. Zum Frösteln aus Müdigkeit gegen 04:00 Uhr früh kam also auch noch die Kälte auf 600 bis 800 m.

Gut dass die Ausrüstung stimmte. Bei der Funktionskleidung von Craft Sportswear griff ich ebenso auf Bewährtes zurück wie bei den KED-Helmen und Brillen sowie bei der Navigation und Aufzeichnung von Garmin. Dank Paul Lange & Co. Bikeparts and more wurde mein Ghost Lector SL mit einer Dura-Ace-Gruppe vom Shimano, einschließlich Laufrädern WH-7850 C24 ausgerüstet, wurden Krylion-Carbonreifen von Michelin aufgezogen und fuhr ich mit Shimano-Custom-Fit-Schuhen SHR310.

Das Prunkstück am Ghost-Renner – und für mich absolut neu – war aber die elektronische Schaltung Di2 der Dura-Ace-Gruppe. Gedacht war sie eigentlich v.a. für das letzte Drittel, wenn durch Ermüdung von Mensch und Material das Schalten unsauberer werden kann, Umwerfer und Schaltwerk bei vergangenen Projekten oft mehrmals und manchmal aufwändig nachjustiert werden mussten. Bei der Di2 reicht ein leichter Druck, und das elektronische Schaltwerk kümmert sich um den Rest. Weil es gleich ziemlich bergan ging, bekam die Di2 allerdings gleich richtig Arbeit. Das Shimano-Exemplar an meinem Rad schaltete sich butterweich und wunderbar präzise. Spaß machte auch – trotz Hagels und Gegenwinds –, dass sich die Umwerfer je nach Kettenstellung über Blatt und Ritzel automatisch in der Querachse nachjustieren: kein Schleifen, kein Verkanten der Kette. Und obwohl wir nach 3200 km den Akku zur Sicherheit wechselten, hätte er wohl die restlichen 800 km auch noch durchgehalten. Silvio Holub, als Radtechniker mit an Bord, bekam jedenfalls mit Schaltung und dem ganzen Rest vom Ghost-Rad nie Schwierigkeiten und selten mal überhaupt was zu tun, über die regelmäßige Kontrolle und Reinigung hinaus.

Im landwirtschaftlich geprägten Hügelland hinter dem Mount Boyce, an Bathurst, Orange und Dubbo vorbei, wurde in der ersten Nacht klar, dass die angezielten 500 km pro Tag nicht erreicht würden. Auch die Hoffnung, auf der anderen Seite des Gebirges würde sich der Wind drehen, zerstob rasch. Zwar war er nicht mehr durchweg so stark wie am Osthang, aber immer noch ausreichend stark, um mir das Leben schwer zu machen, und böig obendrein. Am zweiten Tag konnten wir uns langsam an die australische Steppe gewöhnen, die uns auf den nächsten ca. 1000 km begleiten würde. Auf den gut 150 km zwischen Dubbo (ca. 30 000 Einwohner) und Nyngan (ca. 2 000) bestanden die Ortschaften immer häufiger ausschließlich aus Tankstelle (immer), Pub (meistens), Laden (manchmal) und Gasdepot (selten). Wohnhäuser? Immer öfter Fehlanzeige; die paar Gebäude rund um die Tankstelle dienen also wohl nur als Versorgungsstation der Farmen in der Gegend. Und Nyngan ist auch nur deshalb der Erwähnung wert, weil unsere dort nordwärts verlaufende Route nach West abknickte, vom Mitchell Highway auf den Barrier Highway.

Broken Hill auf dem Barrier Highway, knapp 600 km hinter Nyngan, gut 700 km hinter Dubbo, mehr als 1100 km hinter Sydney und die letzte größere Ansiedlung vor der Grenze zwischen New South Wales und South Australia, sollte eigentlich nach ca. 50 Stunden erreicht sein. Doch selbst wenn am zweiten Tag, bei nach wie vor ungünstigem Wind, die „Verspätung” kaum größer wurde, fuhr ich immer noch den auf dem Weg zum Mount Boyce liegen gelassenen Stunden hinterher. Auch Broken Hill wurde hinter Plan erreicht.

Der dritte Tag im Sattel, der 15.10., brachte zwar noch immer keine erheblich bessere Windstärke oder Windrichtung. Doch immerhin waren jetzt die Abend- und Nachttemperaturen durchweg angenehm, und an den Wind schien im mich zumindest mental gewöhnt zu haben. Er machte mir weniger aus. Allerdings hing jetzt plötzlich der Name Eucla in der Luft. Eucla war zwar noch fast 2000 km entfernt, aber 2007 war Eucla der Anfang vom Ende gewesen. In Eucla begannen Wundstellen am Gesäß aufzuscheuern, und ein paar Hundert Kilometer später musste ich mit einer offenen Wunde aus dem Sattel. Auch 2009 war nach zwei Tagen der Hintern wund und einzelne Stellen offen. Vielleicht liegt’s am vielen Sand in der Luft in der australischen Steppe oder am Staub, den die Road Trains aufwirbeln, Australiens Lkw-Gespanne mit zwei oder drei Hängern, über 25 m Länge, um die 6 m Höhe und Kuhfänger statt Stoßstange. Nirgendwo sonst hatte ich mehr Schwierigkeiten mit dem Sattel, einschließlich beim Race Across America, als in Australien. Es zahlte sich aus, dass ich einen Arzt im Team hatte. Peter Ihle, eigens freigestellt von seinem Arbeitgeber, den Hufeland-Kliniken in Mühlhausen, beobachtete die Wundstellen, ersetzte die Gesäßcreme durch ein hygroskopisches Pflaster und bekam so die Wundstellen in den Griff. Strikte Hygiene und Desinfektion sowie jeden Tag eine neue Craft-Hose, wie erstmals 2008 bei meiner Non-stop-Tour de France erfolgreich praktiziert, sind selbstverständlich, und mit ihrer Hilfe und dem Pflaster wurde nicht nur verhindert, dass sich die Wundstellen verschlimmerten; die offenen Stellen heilten sogar ab.

Ansonsten fühlte ich mich aber körperlich und geistig voll auf der Höhe. Energiehaushalt und Gewichtsverlust waren im Plan, und an Tag 3 begann ich sogar, Zeit gutzumachen. Die Gegend gab schon mal einen Vorgeschmack auf das, was uns in der Westaustralischen Wüste noch erwarten würde. Hatte es vor Nyngan außer den Tankstelle-und-Pub-Ansiedlungen wenigstens noch ab und an eine „echte” Kleinstadt gegeben, so waren jetzt die einzige Abwechslung am Horizont Getreidesilos, dazu ein Vogel, der sich auf meinem Helm niederließ und pickte: amüsant allenfalls für den Vogel. Nachts wurde das von Eugen Neukirch oder Andreas Gräbedünkel gelenkte Begleitfahrzeug immer häufiger neben mich beordert, damit wir uns über irgendwas unterhalten konnten, immer hoffend, dass kein Road Train überholen will. Fast 70 Stunden im Sattel, Eintönigkeit fast ohne optische Reize und sehr gleichförmiges, leicht welliges Land steigerten die Müdigkeit.

Wir erreichten an Tag 4 die Zivilisation wieder: Port Augusta, etwa 300 km nördlich von Adelaide, der Hauptstadt von South Australia. Auf dem Barrier Highway waren wir durch ein paar Orte gekommen, durch die im Januar auch die Tour Down Under führen wird, deren Zentrum und Ziel Adelaide ist. Aber obwohl Australien mit Cadel Evans und Jack Bobridge gerade einen Straßenweltmeister und einen Zeitfahrjuniorenweltmeister bekommen hatte, und obwohl 2010 die Radweltmeisterschaften in Melbourne und Geelong stattfinden werden, sah man von Interesse am Radsport wenig. Dem verrückten Deutschen, der den ganzen Kontinent durchradeln wollte, begegnete man mit Respekt und Aufmunterung, aber sonst beschränkte sich die radsportliche Betätigung auf einige wenige, von denen die beeindruckendsten ein Pärchen sein dürfte, das in der Ödnis von Nullarbor anscheinend mit dem Rad auf Urlaubsfahrt gegangen war, einschließlich ihrer Habseligkeiten in einem Radhängerchen.

Ceduna heißt das Städtchen etwa 400 km westlich von Port Augusta, das wir als Zielpunkt für das Ende des vierten Tages im Sattel festgelegt hatten. Bei 50 % der veranschlagten Zeit wollte ich auch bei etwa 50 % der Strecke sein. Tag 4 war auch der, wo sich alles drehte. Zunächst der Wind; der wehte ab der Anfahrt auf Port Augusta durchweg seitlich bis von hinten, manchmal so stark, dass ich ohne zu treten vorwärts rollte. Jetzt lag mein Schnitt über lange Strecken bei jenseits der 35 km/h. Denn in Port Augusta erreichten wir den Indischen Ozean, wenn auch nur am nördlichen Ende des Spencer-Golfs, aber immerhin. Zwar hatten wir davon nichts und sahen den Ozean nicht einmal. Aber dieselben ablandigen Winde, die meine Herausfahrt aus Sydney, weg vom Pazifik, verlangsamt hatten, wehten mich jetzt zum Indik.

Mit dem Wind drehte sich auch die Einstellung. Hatte mich mein Team anfangs noch eher beruhigt – Durchkommen ist wichtig, Zeit ist egal –, so wurde ich jetzt ermuntert, mit dem Wind im Rücken auf die Tube zu drücken. Was mir noch gar nicht bewusst war, hatten die Leute im Team schon ausgerechnet: Ich hatte im Verlauf des vierten Tags so viel Zeit gutgemacht, dass der Rekord wieder in den Bereich des Möglichen rückte, wenn der fünfte Tag noch ähnlich gut laufen und mir der Wind genauso hold sein würde. Nach Port Augusta ging es weiter stramm westwärts, um auf dem Eyre Highway die Eyre-Halbinsel abzuschneiden, und in Ceduna wurde der Indische Ozean erneut erreicht, diesmal aber richtig, ohne Golf und mit einer Küste, die ein wenig an ein Frühjahrstrainingslager auf Mallorca erinnerte – wenn ich da nicht schon rund 2000 km nonstop in den Beinen gehabt hätte.

Die Stopps wurden jetzt „zielführender”. Meine Lebensgefährtin Gaby Laupichler musste sich schweren Herzens damit anfreunden, dass die warmen Mahlzeiten immer häufiger gestrichen wurden, weil strikt nach Rhythmus Pause gemacht und die Pausen immer kürzer wurden. Das war dann nur noch mit kaltem Imbiss vereinbar. Hatte sie mich und die gesamte Truppe bis Port Augusta noch stets mit Nahrhaftem und Schmackhaftem verwöhnt, so galt es jetzt, Guido möglichst viele Kalorien in möglichst kurzer Pausenzeit beizubringen, ohne den Magen und die Verdauung dadurch zu überlasten. Denn am Tag zuvor hatte der Magen schon mal rebelliert und die kohlenhydratreiche Nahrung wieder von sich gegeben. Es war aber bei dem kurzen Schrecken geblieben und ich hatte mich rasch erholt.

Bei der Ernährung hatte ich neben Bewährtem aus dem Supermarkt auch erstmals auf Squeezy Athletic gesetzt und machte damit beste Erfahrungen. Zum Glück kam pünktlich nach dem Erbrechen per Mail ein Tipp von Daniel Becke, meinem Begleiter bei der Tour vom Bodensee nach Kap Arkona Anfang September, meinem letzten Härtetest vor der Australiendurchquerung. Ich solle, so die Nachricht, strikt auf regelmäßigen Flüssig/Fest-Wechsel achten, statt nur auf die Kalorienzufuhr. Gesagt, getan. Und der sich erholende Magen rebellierte bis Perth nicht ein einziges Mal mehr.

Ab dem fünften Tag wurde dann auch die Ernährung „veruhrwerkt”. Alles und alle funktionierten streng nach Rhythmus, alle 1,5 Stunden eine kurze Pause zur Nahrungsaufnahme, flüssig und fest im Wechsel, und Kontrolle von Mensch und Material. Denn auch der fünfte Satteltag ließ sich dank des Windes und weil ich noch immer in guter Verfassung war, sehr gut an. Möglich war das, weil es außer dem Rhythmus wenig gab. Denn Tag 5 führt durch die Nullarbor-Ebene, das ödeste Stück Ödnis auf der Strecke: nur Büsche, Getrüpp und Sand, kein Baum, kein größerer Strauch, nur ab und an ein Blick auf den Indischen Ozean – und die längste Gerade Australiens und möglicherweise der Welt: 146,6 km ohne eine auch noch so leichte Kurve. Ansiedlungen gibt es gar keine, nur ab und an ein Roadhouse, wobei man vom vorletzten, Caiguna, geschlagene 181 km zum letzen, Balladonia, kurbeln muss und von da weitere 190 km, bis mit dem Städtchen Norseman wieder Leben auf der Bildfläche erscheint. Wo nichts stört, weil nichts los ist, kann man leicht alles dem festen Rhythmus unterordnen. Man ist allein mit sich und den am Straßenrand stinkenden, von Road Trains überfahrenen Kängurus.

Das Fernsehteam vom MDR, mit Karsten Böttger (Kommentar), Frank Kummer (Kamera) und Luise Richter (Ton), musste sich für seine Überspielungen nach Deutschland für Adelaide – östlich – oder Perth – westlich der Westaustralischen Wüste – entscheiden und den Rest deshalb ziehen lassen. Nur Andrea Hellmann und Marco Kneise von der Thüringer Allgemeinen, die die Leser in der Heimat mit täglichen Neuigkeiten versorgten, konnten bei uns bleiben... und hoffen, dass sie ihre Berichte und Fotos mit dem tragbaren Satellitenempfänger irgendwo absetzen können. Auch deshalb war es gut, dass mit Andreas Gräbedünkel, Kollege von Peter Ihle an den Hufeland-Kliniken, ein IT-Fachmann mit an Bord war. Wo vor zwei Jahren auch kleine Wehwehchen der EDV tatenlos hingenommen werden mussten, war diesmal Rat und Tat sofort da. Wo wir vor zwei Jahren in der Wüste wirklich von der Welt abgeschnitten waren, funktionierte diesmal der Kontakt in die Heimat zumindest per Mail.

Nullarbor bedeutet höchste Anforderungen an Mensch und Material. Auf australischen Straßenkarten wird den Wüstenteil des Eyre Highway, obwohl asphaltiert, manchmal noch als „Piste” eingezeichnet, nicht als „Straße”. Entsprechend ist der Asphalt. Den Michelin Krylion wurde alles abverlangt, und ebenso den Shimano WH-7850, die recht stark flexen und deshalb für dieses Terrain genau das Richtige waren. Wir senkten schließlich sogar den Druck im Schlauch auf unter 6 bar, weil bei dem Holperasphalt an den Aerolenker nicht zu denken war und Handballen und Karpal beim Dauergriff am Ober- und Unterlenker schmerzten. Dass wir nicht einen einzigen Schlauch wechseln mussten, kein Rad neu zentriert werden musste, wir überhaupt keine Panne hatten, spricht eine klare Sprache für das Material von Ghost, Shimano und Michelin.

Nullarbor bedeutet aber auch absolute Regelmäßigkeit: Eintönigkeit draußen, bedingungloser Rhythmus drinnen. Und so schaffte ich es, fast 30 Stunden am Stück im Sattel zu bleiben, unterbrochen nur durch Essenspausen, bevor die Batterien wieder mit einer etwas längeren Ruhe aufgetankt werden mussten. Mitten drin, nach einem Drittel etwa, gerechnet ab Ceduna, vor der Querung der eigentlichen Nullarbor-Ebene in der Westaustralischen Wüste, passierte ich Eucla, ein paar Dutzend Kilometer hinter der Grenze zwischen South Australia und Western Australia – Eucla, mein Damokles-Schwert, wo der Hintern vor zwei Jahren wund wurde. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass mir in Eucla ein Riesenstein vom Herzen fallen würde. Aber dann fuhr ich einfach nur durch. Erleichterung ja. Besondere „Feierstimmung” nein, denn inzwischen hatten wir ein anderes Ziel: der Guinness-Eintrag war möglich. Dank Rückenwinds und bedingungslosen Rhythmus entsprechend meinem Zustand war die 24-Stunden-Leistung an Tag 5 und Tag 6 deutlich jenseits 550 km. Dabei ist Nullarbor vielleicht die größte psychische Herausforderung für Ultrafahrer und Begleitteam. Zwei komplette Tage lang, zwischen Ceduna und Norseman, fast 1200 km auseinander, gibt es an der Strecke nur zwei Städtchen und sonst im Abstand von 30 km aufwärts mal ein Roadhouse, d.h. eine langweilige Tankstelle mit ein paar Caravanstellplätzen und einem Motel mit horrenden Preisen für Wasser. Denn natürlich vorkommendes Wasser gibt’s auf den 1200 km keines.

Dass das Team in der Einöde manchmal Spalier stand, um mich aufzumuntern, gehört zu den angenehmsten Erfahrungen.

Zurück in der Zivilisation, in Norseman, endet der Eyre Highway, der in Port Augusta beginnt. Und bei Norseman, als sich die Sonne zum 18.10. und siebten Tag im Sattel hob, konnte dann auch gefeiert werden, dass die Restkilometer „nur” noch dreistellig waren. Vielleicht war es ein Omen, dass wir jetzt auf den Coolgardie Esperance Highway, die „Straße der Guten Hoffnung nach Coolgardie”, wechselten. Nun ist Coolgardie eine von ein paar Kleinstädten auf den nächsten ca. 600 km, bis hinter Southern Cross wieder die „normale” Besiedlung beginnt. Aber nach Nullarbor in der Westaustralischen Wüste ist die immer noch spärliche Besiedlung geradezu eine Wohltat. Nur beginnt hinter Coolgardie auch das westaustralische Hügelland, zwar ohne wirklich schwierige Berge, aber immer wieder mit ziemlich welligem Gelände, das sich mit gut 3000 km in den Beinen doch reichlich bemerkbar macht.

An die Tage 7 und 8 sind die Erinnerungen eher dünn. Immer wieder ging es mir durch den Kopf, dass ich die Gegend, durch die ich ja zwei Jahre zuvor schon einmal in die andere Richtung gefahren war, gar nicht so hügelig in Erinnerung hatte. Aber wirklich bleibenden Eindruck hinterlässt sie nicht. Zunehmend machten sich auch Müdigkeit und Erschöpfung bemerkbar. Aber dennoch fand in dieser Gegend die zweite „Gewaltaktion” der Tour statt: Jetzt strikt, bis es nicht mehr geht, fahrend, gab es wieder nur kurze Pausen zur Nahrungsaufnahme, Material- und Gesundheitskontrolle, aber keine längere Ruhe. Während der Pausen rechneten wir immer neu durch: Für den Guinness-Eintrag und um schneller als Richard Vollebregt zu sein, müsste ich am Nachmittag des 21.10. in Perth ankommen; um sogar schneller zu sein als Gerhard Gulewiczs nicht offiziell anerkannte Zeit, am Abend des 20.10. Zwischenzeitlich gingen zahlreiche Mails und SMS zwischen unserem Team und dem aus Ceduna direkt nach Perth gefahrenen MDR-Team hin und her, das zur Überspielung Perth angesteuert hatte und zurück auf dem Weg an Northam vorbei nach Southern Cross war.

27 Stunden bloß mit Kurzpausen im Sattel bedeuteten dann für mich jedoch, dass erst einmal Feierabend war. Als ich halluzinierte und wegen Hindernissen bremste, die gar nicht auf der Straße standen, wurde (Zwangs-) Ruhe eingelegt. Wir waren bereits in der Anfahrt auf Southern Cross, ca. 400 km von Perth entfernt. Ich soll bei den letzten Kurzpausen vorher mit Gaby gesprochen haben, aber was und ob, weiß ich schlicht nicht mehr. An diesem 20.10.2009 war ich wohl an der Grenze des Leistungsvermögens meines Körpers.

Mit einer Mütze voll Schlaf stieg ich wieder in den Sattel, naturgemäß reichlich erschöpft, aber trotz der vergangenen ca. 3600 km körperlich in guter Verfassung. Es wurde klar, dass ich die bis jetzt nicht durch Dritte bestätigte Zeit für eine Durchquerung nicht würde unterbieten können, aber die Zeit, die für den Guinness-Buch-Eintrag reichen würde, war normalerweise machbar. Neuer Ansporn, und in der Gewissheit, dass ich am Abend des 20.10. zumindest noch den Großraum Perth erreichen würde, war die Geschwindigkeit weiter hoch. Außerdem wurde es jetzt wieder abwechslungsreicher: das MDR-Team tauchte wieder auf, und von einem aus dem Beifahrerfenster hängenden Frank Kummer gefilmt zu werden, muntert auch nach 3800 km noch auf.

Ab Northam, 100 km vor Perth, begann dann die Besiedlung wieder dichter, schließlich städtisch zu werden. Es ging die Hänge des Darling Scarp zum Indischen Ozean hinunter, Blick auf das Lichtermeer von Perth. Noch schöner wäre eine Ankunft bei Tage gewesen. Aber so musste ich mich mit einer Ankunft mitten in der westaustralischen Nacht bescheiden. Bei Midland die richtige Abfahrt vom Great Eastern Highway erwischen! Anders als beim Start in Sydney diesmal kein Problem. Als wir in die Nähe der Kernstadt von Perth kamen, war der Feierabendverkehr bereits vorbei. Als ich gegen Mitternacht den wenig befahreren Reid Highway Richtung North Beach unter den Michelin-Reifen hatte, kämpfte schon Euphorie mit der Erschöpfung. Die Erschöpfung von am Ziel 4006 km laut meinem Garmin Edge. Die Euphorie, auf jeden Fall unter der aktuellen, im Guinness-Buch eingetragenen Zeit geblieben zu sein. Großer Bahnhof am Strand, am Ziel. Leider nur wenig größer, als mein Team groß war. Aber das war ganz groß, unterwegs und am Zielstrand.

An alles hatten sie gedacht. Nicht nur an Luftballons und Feierlaune, sondern auch daran, zwei Australier, die aus irgendeinem Grund nachts um halb drei noch in North Beach unterwegs waren, zu stoppen und zu unterschreibenden Zeugen meiner Ankunft zu machen. Ohne Unterschrift, ohne unabhängige Zeugen kein Guinness-Buch-Eintrag. Ich selbst ging nach der würdigen Begrüßung in der westaustralischen Nacht recht rasch in die Horizontale, überließ den anderen das Ausrechnen der effektiven Zeit. Bei drei Zeitzonen, wobei aber die Uhr nicht von Zone zu Zone eine Stunde vor- oder zurückgestellt wird, sondern einige Sommerzeit haben, andere nicht, einige auch nur um 30 oder 45 Minuten im Vergleich zum Nachbar umstellen, war es nicht sofort einsichtig, wie lange ich denn nun unterwegs gewesen war.

Als ich wieder wach wurde, sagte man es mir: sieben Tage neunzehn Stunden fünf Minuten. Über einen halben Tag schneller als Richard Vollebregt.

Der Biorhythmus ist bis heute, einen Monat nach Rückkehr, noch ein wenig aus dem Takt. Aber von den ca. 187 Stunden fast ausschließlich im Sattel habe ich mich recht rasch erholt. Mein Sohn Marvin brachte ganz pragmatisch auf den Punkt, was der neue Guinness-Eintrag (vorausgesetzt das Guinness-Buch akzeptiert unsere Dokumentation) bedeutet: „Jetzt warst du so schnell, dass wir auch noch in den Kängurupark gehen können.”

Neben einem Treffen mit dem deutschen Honorarkonsul in Perth und dem Vorsitzenden der Rotary-Club-Sektion für Westaustralien war denn auch der Besuch des Caversham Wildlife Park fest eingeplant, bevor wir zurück nach Deutschland flogen.

Meine Ausrüster und Sponsoren haben die Durchführung des Projekts erst möglich gemacht. Mein Team hat hervorragend funktioniert: Silvio, der schon bei Race Across America dabei war, Eugen, der mich schon vor zwei Jahren in Australien unterstützte, Peter, der sich nach dem Abbruch vor zwei Jahren spontan für den nächsten Versuch anbot und gleich seinen Kollegen Andreas mitbrachte, Andrea und Marco für die Thüringer Allgemeine, Luise, Frank und Karsten für den Mitteldeutschen Rundfunk, die die Heimat mit Informationen versorgten, all die, die mir zu Hause die Daumen drückten, und natürlich Gaby und Marvin, die mir jahrein, jahraus beruflich und privat die Freiräume lassen, meine Herausforderungen vorzubereiten, die selbst enorm viel Energie und Zeit in die Organisation meiner Projekte investieren und die – und das freut mich besonders – bei diesem Guinness-Rekord dabei waren.

Ich bin dankbar und ein bisschen stolz, dass ich ihnen allen zeigen konnte, dass sie auf’s richtige Pferd gesetzt haben.